1983 Kunstprojekt AlTes Zuchthaus Sarnen
Kunst im Zuchthaus
Er gehört zu den Teilnehmern am Projekt Sarnen; er hat selber auch eine Zelle gestaltet und weiss deshalb sehr genau, wovon er redet: Jean Odermatt geht in seiner Auseinandersetzung recht hart mit sich und seinen Künstler – Kollegen ins Gericht.
Nicht ganz einfach: Über eine Studie schreiben, in die ich selbst verwickelt bin und versuchen deutlich zu machen, dass es mir nicht um eine Abrechnung geht, nicht ums Freisetzen von Frustrationen, sondern darum über Erlebtes nachzudenken.Das Beispiel, über das ich berichten möchte: das Kunstprojekt Zuchthaus Sarnen. Nicht öffentlicher Raum war hier zu schmücken, keine vergammelte Fabrikhalle war zu beglücken und zu revitalisieren; Arbeit in den Zellen eines 100 Jahre alten Gefängnisses stand Künstlern in Aussicht. Also kein Raum für fröhliches Tun, sondern eine hochgeladene, existentielle Situation.
Das Projekt war für einen Kulturraum wie die Innerschweiz, der gemeinhin als Provinz gilt, nicht ganz selbstverständlich. Entsprechend sah ein nicht geringer Teil der Bevölkerung der Sache skeptisch und argwöhnisch entgegen. Da erstaunte auch ein Leserbrief in der lokalen Presse nicht, in dem der Schreiber seine Lust ausdrückte, die Schlüssel hinter den in die Zellen eingezogenen Künstlern zu drehen, damit sie sich auf sich selber besinnen könnten – schliesslich hätte Michelangelo...
Zur Wut von damals über die provinzielle Ignoranz des Publikums, über das Unverständnis gegenüber dem Projekt, welches in der Umgebung kursierte, gesellte sich jetzt in mir eine Wut über uns Künstler selber. Im Vorfeld der Öffentlichmachung des Projektes war viel von der Gleichung Künstler = Zuchthäusler die Rede, beide dargestellt als unverstandene Aussenseiter. So überzeugend dies bei Antonin Artaud etwa ist, so konsequent bei Pier Paolo Pasolini, so frage ich mich, inwiefern die Übernahme derartiger Formeln ein Kokettieren mit bedeutungsvollen Chiffren darstellt.
Sicher, das Projekt war anspruchsvoll, das Gefängnis legte es nahe, Einfühlung in die Lage ehemaliger Gefängnisinsassen zu demonstrieren – nicht nur im Sinne allfälliger Spurensuche, sondern im Sinne möglicher Wahlverwandtschaft. Eine solche Einfühlung verkommt aber zwangsläufig zum reinen Spielzeuginventar, zur verlogenen Haltung, wenn sie nicht auf einen selbst zurückführt. Auf einen selbst sowohl im zu schaffenden Werk als auch in der eigenen Haltung, im eigenen Selbstverständnis.
Gerade von daher empfinde ich das Projekt Altes Zuchthaus Sarnen als wesentlich: Es führt nicht nur auf individuelle Phantasien, sondern auch auf ein kollektives Selbstverständnis. Was liegt in diesem abgetakelten Gebäude näher, als es zu begreifen als Chiffre für die eigene Situation (nicht die biografische, sondern die des transzendenten Tuns), als Ort der existentiellen Auseinandersetzung, nicht der Gelegenheitsarbeit. Damit meine ich allerdings nicht jene peinlichen kollektiven Prozesse, in der sich stümperhafte Mittelmässigkeit hinter sozialkritischem (sozialkitschigem?) Anspruch versteckt, sondern jene kollektive Auseinandersetzung (oder, wenn es nicht so abgegriffen klänge: Solidarität ) der Künstler mit ihrer je individuellen Arbeit, ihrer Situation, ihrem i n n e r e n Aussenseiterdasein in der Gesellschaft. Ich meine die gemeinsame Reaktion, Rebellion vielleicht und nicht ein Abschieben auf Kritiker, Umwelt, Staat, Gesellschaft oder sonst einen Schwarzpeter; ich meine die Rebellion gegen die e i g e n e Übernahme zugewiesener Rollen.
Aber jeder von uns hat sich eine Zelle zuweisen lassen, wir haben unser Arbeitsorte übernommen wie andere Standplätze auf dem Flohmarkt übernehmen. Die Vergangenheit der Zellen hat unsere Gegenwart erfasse, wir haben uns nicht anders verhalten als die Gefangenen von damals – die keine Wahl hatten. Und wir haben es nicht einmal gemerkt. Noch mehr: Wir haben uns auf ihre Vergangenheit einzulassen versucht und dabei unsere eigene Gegenwart vergessen, ja im Stich gelassen.
Das Projekt Altes Zuchthaus Sarnen als Ort der Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, mit der eigenen Situation hat nicht stattgefunden. Im einzelnen mögen zwar künstlerische Auseinandersetzungen verwirklicht worden sein. Nur, dazu war die so hochgeladene kollektive Chiffre eines Zuchthauses nicht nötig, das hätte genau so gut im isolierten und isolierenden Atelier geschehen können. Wir Künstler haben uns selbst eingeschlossen und sind damit weit über die spiessige Phantasie des besagten Leserbriefschreiber hinausgegangen. Wir haben sie gelebt. Ich kritisiere das und nehme mich nicht aus.
Natürlich könnte man einwenden, die Zellen seien ja dazu da gewesen, damit sich die Einzelnen in ihren künstlerisch betätigen und künstlerische Lösungen finden konnten. Schliesslich sind wir ja nicht Philosophen, sondern Künstler. Sicher, ja, und dennoch habe ich etwas gegen die Haltung des „Künstler bilde, rede nicht“. Gerade jetzt, wo ich spüre, dass das Projekt gescheitert ist, und zwar nicht philosophisch, sonder künstlerisch. Künstlerisch gescheitert ist es gerade wegen zu grosser Unbedachtheit und damit wohl auch zu geringerer Ernsthaftigkeit. Mir wäre nun aber nicht wohl, würde man dies der (individuell begründbaren) Mittelmässigkeit zuzuschreiben. Das Scheitern scheint mir auch Ausdruck eines Klimas zu sein, einer Stimmung, für die „Provinz“ nur eine vorläufige und nur plakative Formel für eine Art geistiger Einöde ist, die sich durch fehlende Intimität und fehlende Konfliktfähigkeit charakterisiert. Und diese Einöde beschäftigt mich.
Ich kann mich auch nicht damit abfinden, dass man rund um das Projekt andauernd von einem Going-together, von Prozesshaftigkeit und was ich weiss noch von was für modischem Krimskrams geredet hat, der sich jetzt auch in der Provinz eingenistet zu haben scheint. Ich kann mich deshalb nicht damit abfinden, weil dies alles nicht stattgefunden hat. Wenn Gespräche stattfanden: warum dann immer mit Leuten, die mit den Zellen nichts zu tun hatten, mit Freunden, „Verwandten“, mit den Anwälten des eigenen Falles sozusagen.
Was aber blieb mit den Mitinsassen? Kantinengespräche, Klatsch und Administratives. „Wer bleibt heute zum Essen?“ „Ja, wenn dann Ferien sind, dann werden sicher mehr Leute da sein und in den Zellen arbeiten.“ „Jetzt hat der Kanton Geld gesprochen. Über die Zellenarbeit wurde nicht gesprochen, durfte man nicht sprechen. Das war tabu, nicht nur in Sarnen, das gehört sich so in der Kunst: “Künstler bilde, rede nicht!“ Ein Prosit darauf, denn dem Trunke durfte man sich ergeben der Sprache nicht. Höchstens in Form von Belanglosigkeiten: „Ja , da hast Du einen schönen Rhythmus gefunden.“
Jemand mag einwenden, ein so grosser Haufen tue sich eben schwer mit Auseinandersetzungen. Müsste man da nicht kontern, es seien im Gegenteil zu wenig Leute gewesen, als dass irgendwo der Funke zur Rebellion hätte gelegt werden können?
Die Auseinandersetzung konnte gar keine Chance haben. Jeder ging still in seiner Zelle seiner Muse nach, verliess die Zelle abends wieder und begegnete – so er Glück hatte – im Flur einem anderen. Das nächste Mal, wenn er die Treppe hoch ging, fragte er sich vielleicht, was wohl in der Zwischenzeit alles geschehen war und murmelte vielleicht leise ein Stossgebet: Lieber Gott gib, dass mein Zellennachbar schlechter ist als ich. Und nach der Pressekonferenz wartete ein jeder gespannt darauf, ob wohl der eigenen Name auch lobend genug erwähnt werde.
Man wird’s mir übel nehmen, dass ich das schreibe – weil das alles ja nicht wahr sein darf. Ich gebe es gerne zu: Auch ich habe mich aufgeregt, dass die Grosskritiker meine Arbeit nicht erwähnenswert fanden. Und doch bin ich jetzt um Grundsätzliches bemüht, man darf und muss sich doch fragen, wieweit wir die Ansprüche, die mit dem Projekt verbunden waren, verwirklichen konnten. Mich befremdet es sehr, dass gegen die meiner Ansicht nach einzige seriöse und reflektierende Berichterstattung – Peter Killer im Zürcher Tages Anzeiger – ein höhnischer Leserbrief verfasst und für seine Unterzeichnung Künstler-Unterschriften gesammelt wurden.
Wie leicht doch so ein Projekt ins reine Verwalten hineingerät? Termine wurden bestimmt, Räume vergeben, Aufgabenbereiche organisatorischer Art zugeteilt. Ein jeder fügte sich, machte seine Sache. Und dann wurde mit eidgenössischer Akribie eine Vernissage vorbereitet. Sie entpuppte sich als Volksfest hinter dem Alten Zuchthaus, wo man gutgelaunt zu südamerikanischer Folklore und bei Gigot d’agneau und Salatbuffet die Ernsthaftigkeit des ganzen Projektes kredenzte. Die grosse Einheit im Hinterhof eines Gefängnisses. Der dreckverschmierte Jüngling, der wutentbrannt durch das Gefängnis raste, sich mit wilden Bombendrohungen die Luft abschneidend, wurde sanft auf die grüne Wiese hinausgeführt und mit geduldig-zivilisiertem Eifer auf jene Normalität hinuntergekurbelt, derer sich die im Hinterhof Versammelten schon lange (schon immer) erfreuten. Es sei halt einer aus der Zürcher Szene gewesen, erledigte man später das Thema.
Für die Finissage ist wieder ein Fest geplant. Mit der Musik werde es diesmal besser klappen, heisst es, nicht mehr diese Improvisation wie an der Vernissage. Verstünde man, wenn ich dagegen opponierte, wenn ich meine Hilflosigkeit äusserte gegenüber der Musik an der Vernissage spielenden südamerikanischen „Indios“ (auch wieder so eine Aussenseiterverbrüderung), gegenüber der Art und Weise, wie diese Musik im Festgefresse assimiliert wurde – wie weiland im Dorfe die Darbietungen des Jodlerchörlis durch die anwesenden Volksmusikfreunde ? Dass die Musik anders ist, dass man Hudigäggeler doof und südamerikanische Musik „den Wahn“ findet, weil man sich als Künstler ja zu Erhabenerem berufen fühlt, das alles macht noch lange keine kosmopolitische Gesinnung aus. Hätte man also, würde man also mein Opponieren verstehen, und wüsste ich eine Alternative ? Wie leicht man doch ins Verwalten abrutscht. Ich verstehe langsam jenen Kollegen aus Düsseldorf, der hier aufgewachsen ist und der, wenn er wieder einmal hier auftaucht, sich wie in einem Traum vorkommt, die Dinge nicht fassen kann und Tage braucht, um sich wieder zurechtzufinden.
Sicher: Was in Sarnen passierte, das hätte so oder ähnlich auch in Zürich, selbst in New York ablaufen können. Aber in einer Kulturregion wie der Innerschweiz wird jedes Ereignis – aufgrund der Kleinheit des Raumes – zwangsläufig sehr öffentlich und findet auch eine zumindest quantitativ entsprechende Resonanz. Immerhin besuchten in der ersten drei Wochen nach Eröffnung weit mehr als 2000 Personen das Zuchthaus. Dies allein ist schon ein Thema, wenn so viele Leute, die zu einem grossen Teil kaum in Galerien und Museen gehen dürften, auf so etwas einlassen. Umso schwerer aber wiegen unsere Unterlassungssünden!
Die räumlich und inhaltlich hochkonzentrierte Situation des Projektes Altes Zuchthaus Sarnen wäre eine einmalige Chance gewesen, „Provinzialität“ zu überdenken und zu überwinden. Eine solche Chance ergibt sich wohl für lange lange Zeit nicht mehr. Und indem wir sie verpassten, haben wir Künstler uns selber ein Wegstück in die innere Emigration gelegt. Dafür kann niemand anders verantwortlich gemacht werden als: wir selber.
Jean Odermatt