1989 DIE ZEREMONIEN DER KALTGESTELLTEN HERZEN
Essay DU Juli 1989 Heft Expressionismus/Kirchner
“Meine Arbeit kommt aus der Sehnsucht der Einsamkeit. Ich war immer allein, je mehr ich unter Menschen kam, fühlte ich meine Einsamkeit, ausgestossen, trotzdem mich niemand ausstiess. Das macht tiefe Traurigkeit und diese wich durch die Arbeit und das Wollen zu verschwinden.” (E.L.Kirchner)
Ernst Ludwig Kirchners Schritte in die Verlassenheit zeugen nicht nur von biografischen Momenten, sondern in erster Linie von einer exemplarischen Verfassung, die ein Werk erst möglich macht. Kennt das Publikum ein Werk nur aus dem scheinbar sicheren Hort der Geschichte, so entfernt es sich von seinem Urgrund. Eine Kluft wird offenbar: die Offenheit des Werkes steht im Gegensatz zur konstruierten Sicherheit der Interpretation, zur Überführung eines Werkes in den Konsens der Geschichte.
Ein historischer Prozess: Kein Thema ist ohne Rückbindung an die umgebende Kultur rezipierbar. Geschlossene, autarke Kulturen vermitteln durch ihre Tradition den Kanon der relevanten Themen. Der Künstler ist darin ein Ausführender, das Problem einer subjektiven Wahl stellt sich ihm unter diesen Umständen gar nicht. Schwindet jedoch der Konsens darüber, welche Werte und Themen erheblich zu sein haben, so wird für den Künstler die Notwendigkeit eines persönlichen Bekenntnisses zu Motiven wie zu deren formaler Behandlung massgebend. Die nur ist nicht nur ein zentraler Ausgangspunkt der Freiheit von Kunst und Künstler, sondern auch der Schwierigkeit des Publikums, zu ebensolcher Kunst Zugang zu finden. Die Quellen der Verständigung werden vielschichtiger, nicht mehr ohne weiteres voraussetzbar.
Doch das Publikum braucht Zeremonien, das Unbekannte darf nicht länger ohne Heimat sein. Die Zeremonien der persönlichen Motive werden aufgeführt: Was war Ihre Absicht? Was haben Sie dabei gedacht? sind die Fragen matter Herzen. Doch die Frage nach der persönlichen Kausalität unterfordert jedes Kunstwerk: für das Werk ist das Persönliche kein Kriterium. Es will im Gegenteil sich aus dieser Enge befreien, will Zielgerichtetheit und Vergänglichkeit hinter sich lassen. Arbeit im Werk ist Beobachtung und Messung des Lebens über das vordergründig Biografische hinaus. Nur der flüchtige Blick des Publikums macht alles zur blossen Anekdote, zur nachträglichen Ehrerbietung in Form von Geschwätzigkeit. Es mag interessant sein, bisweilen gar unvermeidlich, hinsichtlich des Werks jedoch bleibt es immer unwesentlich.
Da holt das Publikum zur nächsten Zeremonie aus: die Repräsentation von Inhalten. Es wertet sie zuvorderst, benennt in summarischem Betrachten erschöpfend Themen. von der Konzeption hingegen, von der Körperlichkeit eines Inhaltes vermag es selten etwas zu sehen. Gefangengenommen sind seine Blicke vom leicht Erkenntlichen, vom Programmmässigen, jenem mühelos Nennbaren, das es nicht erst zu erobern gilt. Doch dem Werk ist das nie gemäss: dem Stoff wohnt keine Tugend inne. Das äusserlich Sichtbare ist vielmehr das Hindernis, das Kunst zu überwinden hat.
Der Künstler repräsentiert im Werk nicht Inhalte, sondern setzt sich mit der Methode seines Sehens auseinander. Dieser Prozess, der zur Formulierung einer eigenen Bildsprache führt, beginnt mit der unablässigen Befragung der äusseren Erscheinung, nicht mit der sicheren Feststellung, sondern mit dem genauen Hinsehen, dem Verharren, das noch ohne Antwort bleibt. Allein aus der langen Geduld kann das Material seine sichtbare Hülle ablegen, eigenes Leben, Rhythmus entfalten. Mithin wandelt sich das Handwerklich-Technische, offenbart lebendige Form, nicht durch das „Können“, sondern aus einer Vision heraus, ergriffen und gequält durch das Leben selbst. So sind der Stationen mehrere: den Stoff sieht meist noch jedermann vor sich, den Gehalt findet nur noch der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form bleibt den meisten ein Geheimnis.
Auf diesem Weg gibt es keine Abkürzungen: Schauen allein durchdringt die Kulissen, Wissen wendet sich in die Irre, folgt nur einem äusseren Plan. Exemplarisch hierfür: der Berg. Die aufgeklärte Vorstellung von seiner kartografischen Erschlossenheit, vom Wehen eines Wimpels auf dem Gipfel, glaubt alles offenbart zu sehen, sieht alles klar bezwungen: Zeremonien kaltgestellter Herzen. Doch wo ist die Aussichtshöhe, von der aus sich der Berg gänzlich offenbart? Sieht der Betrachter nicht immer wieder neue Seiten, ergeben sich nicht mit jeder Lage neue Wirkungen? Entbrennt an ihm nicht der Blick auf die Unendlichkeit, ohne Ende, fortzeugend wie das Leben, da er selber Leben ist, ein realer Teil der Dinge und unabsehbar in den Folgen?
Das Ausharren, der Kampf, die Bändigung der Ungeduld gegenüber diesen Kräften kennt keine Zeremonien. Wie oft muss Cézanne stundenlang vor seinem Motiv ausgeharrt haben, in jener langen Geduld, die Hingabe wie Aufnahme ist, bis die Intensität des Hinsehens jenes Ausmass erreicht hat, in der durch die äussere Erscheinung hindurch eine Kraft entgegenkommt: die Natur wirft etwas hin, das der Maler als Stenogramm aufnimmt und der Betrachter als Lebendiges wiedererkennt. In diesem unablässigen Dialog mit der Substanz des Sichtbaren beginnt diese zu schmelzen, offenbart für Momente das dahinter Verborgene, gibt Schichten frei, die nicht Ausdruck technischen Könnens sind, sondern der Auseinandersetzung und der Unerbittlichkeit. Das sind keine Zeremonien der Effekte und der Gier nach Neuem.
Die originalsten Künstler einer Zeit sind nicht jene, die Neues hervorzubringen trachten, sondern jene, die fähig sind, Dinge so zu sagen, als wenn sie vorher noch nie gesagt worden wären. Form ist nichts anderes als der Beweis, dass man (wieder) gefunden hat; denn es ist unmöglich, dass einer, der wirklich etwas findet und formuliert, es nicht auf eine andere Weise tut, als es je getan worden ist. So misst sich die Bedeutung eines Werkes zuerst darin, inwiefern die Intensität der Ergriffenheit (Inhalt) in Einklang steht mit der Intensität und Qualität der Formgebung. Vergangenes wird liquidiert (verflüssigt) zu neuer Form, wodurch das Unnennbare abermals lebendig blitzt. Das sind die Grundlagen einer jeden Bildsprache, und ohne sie ist keine Malerei möglich. Nur: Jede Sprache neigt dazu, spätestens wenn sie zitiert und gelehrt wird, zu erstarren, zur Zeremonie zu werden.
Jede Form, einmal geboren, veraltet. Sie beginnt sich zusehends an den – geschulten – Verstand zu richten; Worte, Worte nur, an wen gerichtet und von was getragen? Was Klarheit war kann vermittelt nur zur Droge werden: Wer über eine Bildsprache verfügt, kann leicht auf das Sehen verzichten – er weiss ja! -, und wer einer Bildsprache nicht mächtig ist, kann nicht wiedergeben, was er sieht: er sieht nicht! Lebendige Bildsprache jedoch bleibt unerbittlich, schreitet unvermindert fort: ihre Entwicklung ist eingebunden in das Brechen vieler kleiner Widerstände, kann mitunter schmerzlich sein und verlangt allemal Anstrengung und Mut.
Jedes originale Werk ist Ausdruck eines ersten Males – wie die Welt dem Blick des Kindes sich offenbart. Es ist nicht die Furcht der Wiederholung, sondern von Weglassen, von Vergessen im Hinausziehen auf dem eigenen, doch unmarkierten Weg. Dem Schaffenden in seinem Kampf schaut keine Geschichte zu, niemand, der da ist und ihm sagt, dass er doch noch Land erreichen werde. Er ist allein, nur unterstützt von seiner relativen Unangepasstheit an Konventionen, die es ihm erleichtern, von der grossen Strasse der Zeremonien fernzubleiben und der eigenen Sehnsucht nachzugehen, die durch ihn hindurch treibt, das zu finden trachtet, was andere entbehren, ohne es zu wissen.
Erst wenn der Kampf vorüber ist, beschwört das Publikum vergoldend Zeremonien der Erinnerung, und die faule Kunstkritik lebt mit Verve ihr System darüber. Wie gleichen sie doch Alpinisten, die sich einen Pickel anschaffen, wenn längst keine Abgründe mehr vorhanden sind! Dies bleibt ihr Sinn: ihre Begriffe prägen Werte, doch die Werke atmen Leben. Kunst selbst ist schon Vermittlerin, setzt Blicke frei zum Unaussprechlichen, trägt Welt in sich.
Darum ist es eine Torheit, sie nochmals durch Worte zu vermitteln. Sie braucht keine Ergänzung, vielmehr: Hingabe, Genauigkeit, Geduld. Als ich am Entsagen das Unsichtbarsein lernte, sah ich alle Einsamen stehen. Alle berühren sich und sind unsichtbar. Das reine Wollen macht einsam, das Begehren fällt ab und hinter der realen erscheint die eigentliche Wirklichkeit. Man muss unsichtbar sein, um sie zu sehen. Dann kommt aus der äusseren Form das innere Gesicht und die Form des Bildes wird zum Werkzeug, im andern Menschen das zweite Bild an seiner Seele zu erzeugen. Es schafft es selbst mit dem ersten, dem ich all meine Kraft und Liebe gab und doch ist es nur ein Mittel, ein Werkzeug, sonst nichts. (E.L. Kirchner)