Soundcheck

Mit dem Saxophon in der Staumauer. Von Werner Lüdi NZZ Format Juli 1995   

«DIE STAUMAUER LUCENDRO ist in den (betonarmen) Kriegsjahren zwischen 1942 und 1947 erbaut worden. Als einziges derartiges Bauwerk in der Schweiz ist sie innen gänzlich hohl. Sie hat eine kammerartige Struktur: über eine Länge von 270 Metern und eine Höhe von 68,5 Metern erstrecken sich 17 Kammern. Jede Kammer definiert eine andere Raumsituation und weist eine andere Klangcharakteristik und Atmosphäre auf.»

Die Einladung des szenischen Künstlers Jean Odermatt, in der Staumauer zu spielen, erreicht mich im Spätsommer 1993. Der Cellist Martin Schütz, Opfer eines betrunkenen Autorasers, hat sich den Ellenbogen lädiert, für einen Cellospieler ein Desaster. Er muss absagen. «Nimm Lüdi, den Saxophonisten, den Mann aus den Bergen», empfiehlt er dem Jean.

«Willst du etwas über einen Apfel erfahren, musst du hineinbeissen», behauptet Mao Tsetung. Für den Pfadfinder mag das bedeuten: Geh in den Wald, beiss in den Baum und finde heraus, wer der härtere ist. Für mich sollte dies heissen: Geh mit dem Horn in die Mauer, blase dagegen an und spüre, dass Jericho möglich ist.

Ich habe einen klaustrophobischen Knacks (Horrorvorstellung: lebendig begraben zu werden). Und Höhenangst dazu. Beides werde ich in den nächsten Tagen im Bauch der Staumauer reichlich auszuhalten haben. Zudem ist es klammfeucht und kalt und düster. Ein Ort zum Fürchten. Ich schreite ihn ab. Drehe mich im Kreis. Schaue in die Höhe. Halte inne. Und erfahre hautnah, wovon Dichter sprechen, wenn sie vom Dröhnen der Stille sprechen. Dieser elend grosse Raum blubbert, flutscht, gluckst, gurgelt, plätschert, planscht, raunt, surrt, summt, schluckt, schlürft, sabbert. Schliesslich wage ich mich bis an das hintere Ende der Kammer, lehne mein Gesicht gegen die Mauer, gegen die 250 Millionen Liter Wasser drücken. Nur weg hier.

Nein, im Gegenteil, ich beginne mich einzurichten. Ich lege mein Saxophonetui auf den Boden, ziehe am Reissverschluss, nehme das Bariton heraus, lege das Horn auf das Lederetui, mache den Beutel auf, pule das Mundstück aus dem Tuch, stecke das Mundstück auf das Saxophonhalsende, öffne die Schachtel mit den Saxophonblättern, RICO R OYAL, Härte 3, feuchte das Blatt an, nehme die Mundstückkappe weg, stecke sie in die Hosentasche, spanne das Blatt auf das Mundstück, richte es, lege das Saxophonhalsband um den Kopf, ziehe es stramm, halte das Saxophon, leicht aufwärts gewinkelt, gegen den weit vor mir liegenden Raum, führe das Mundstück in meinen Mund und: diese Explosion haben diese Mauern nie zuvor vernommen . . . Krachend fährt der erste Sound nach oben. Die Länge des Nachhalls - fünf bis sieben Sekunden - lässt den Klang sich entfalten wie eine Blüte. Als ginge diese über mir auf - wie die Kaskaden eines Feuerwerks, langsam in tausend kleinen Lichtkörperchen auf mich herabschwebend. Ich brauche nur zu empfangen, zu hören, kann jedes kleine Zeit- und Lichtteilchen aufnehmen, diese in den Klang des Saxophons einschmelzen und sie zu immer neuen Soundgewittern entwickeln, als sei nicht ich es, der die Musik macht - als geschehe sie mit mir und durch mich.

Wer spielt da eigentlich?

Ja, die Obertöne. Eine Obertonreihe hört nie auf. Mit den Obertönen als Vehikel gelangst du in andere Dimensionen, es geht immer weiter, und wenn du dich von ihnen tragen lässt, tragen sie dich noch höher. Ich entdecke die Langsamkeit, wie wichtig es ist, zu hören, wahrzunehmen - und es geschehen zu lassen. Mirakulös. In dieser «Kathedrale der aufgefangenen Wasser» erfahre ich, wie einfach es ist, vom Brüllen ins Stöhnen ins Flüstern ins Atmen zu gelangen. Und umgekehrt.

In der ersten Nacht ist an Schlaf gar nicht zu denken. Liege in meinem Zimmerchen in der Baubaracke, beginne die Enge des Schlafsacks zu hassen, starre zur Decke, komme mir vor wie Martin Sheen in «Apocalypse now», fehlen bloss die Rotorblätter des Ventilators. «This is the end, my friend . . .» Ich beschliesse abzuhauen - abzuheben? Steige auf eine Brücke, um eine optimale Ausgangsposition für den Flug zu haben. Aber es will nicht gehen. Suche nun eine bequeme Stufe, stosse mich ab, schlage mit den Armen und schwebe. Versuche, höherzusteigen, und es funktioniert. Kreisend und die Thermik nutzend, schraube ich mich immer höher, so hoch, bis ich das Gefühl bekomme, mich in ganz dünner Luft zu befinden. Es ist kalt, und es gibt hier oben keine Thermik mehr. Aber schliesslich ist es ein Traum, und ich will, meiner Bequemlichkeit zuliebe, die Physik etwas ändern. Von einem Moment zum andern ist mir nicht mehr kalt, und ich leide auch nicht mehr an Atemnot. Immer höher steige ich, ein herrliches Gefühl von absoluter Freiheit durchströmt mich.

Ich schwebe am Rande des Weltraums und geniesse den Blick auf unseren heute wolkenlosen Planeten. Ich schwebe über diesem gigantischen Abgrund mit einem grossartigen Gefühl im Bauch, ein bisschen wie Achterbahn, und steige höher und höher. Dabei fühle ich mich ganz sicher. Langsam kommt Langeweile auf, ich habe mich satt gesehen. Dann beschliesse ich abzustürzen.

Auf dem Weg zum Hospiz überholt mich die historische Gotthardpost. Sechsspännig kommt sie jeden Mittag von Andermatt hier herauf. Am Seelein ist Fotohalt. Der Kutscher steigt als erster vom Bock. Gesicht vom Typ Schweinchen Dick. Passt nicht zur Uniform. Riecht nach gestrigem Besäufnis. Eine Mischung aus Zwiebeln, Knoblauch, Sekt, Bier, Schnaps, Sonnenblumenkernen, Stockfisch und Aceton. Die Augen rot, riechen ebenfalls. Die Passagiere stellen sich im Halbkreis auf. Amerikanische Ausrufe des Entzückens. Es stellt sich heraus, dass sie stilecht gekleidet sind. Enggeschnürtes Mieder, Pompon, Hütchen mit Spitzenschleier die Damen. Zylinderhut, enge Beinkleider und Silberschnallenschuhe die Herren. Die noble Gesellschaft hat die Form von Gegenständen angenommen.

So gibt es den Rittmeister in Säbelform mit dem Hündchen in Pistolenform. Die Gouvernante in Ballonform, den geschichtsbewussten Staatsdiener in Stockform. Nicht zu übersehen: den Schöngeist in Flaschenform. Schätzt Denken und Trinken, immer abwechselnd. Hat er einen Gedanken, muss er trinken. Hat er mal keinen Gedanken, trinkt er, um die Wartezeit zu verschönern. Macht den Damen den Hof, die abwechselnd mit Denken und Trinken an die Reihe kommen. Findet aber nie simultan statt, daher die Sauferei mit Unbekannten. Dann ist da noch jener mit dem weitverbreiteten Gesicht. Sitzt auf kugelförmiger Figur. Arme, Beine, Magen, Leber - alles da, aber nichts funktioniert mehr so richtig. Ist mit Ärzten befreundet, die das gleiche haben. Hilft sich mit Humor. Zweifelt an allem. Sieht angezogen schrecklich, ausgezogen grässlich aus.

Das Selbstbedienungsrestaurant ist krachend voll. Das Speiselokal ist krachend voll. Das Säli für das Militär reserviert. Das hübsche Séparée den Nobilitäten aus der Kutsche vorbehalten. Älplermagronen mit Apfelmus sind leider ausgegangen. Walliser Käseschnitte - liegt auf. Bündnerfleisch - gibt nichts her. Hobelchäs - macht Durst. Ich verpflege mich am Falafelstand. Der steht neben der Würstchenbude. Diese steht neben dem Tabak- und Getränkekiosk. Der steht neben dem Gelato-Paradiso. Dem T-Shirt- und Mützentreff. Dem Postkarten- und Souvenirshop. Mountainbiker keuchen die Tremola herauf. Im Gras lümmeln sich Soldaten. Schwere Motorräder heulen auf. Wohnmobile werden in die Parklücken eingewiesen. Autocars verbreiten Benzinschwaden. Väter strecken ihr müdes Kreuz (Dortmund?Gotthard in einem Rutsch), Mütter wickeln Säuglinge, Langläufer auf Rollbrettern ziehen an Picknickern vorbei, Jogger trinken aus Pappbechern, das junge Paar macht ein Erinnerungsfoto mit Selbstauslöser, Wanderer hämmern mit ihren Spazierstöcken aufs Kopfsteinpflaster, Rollschuhläufer flitzen zwischen den Autos durch, Jäger spiegeln die umliegenden Felswände, Grosi macht auf dem Bänklein ein Nickerchen, und die historische Gotthardpost hat mittlerweile auch angedockt. «What a place», höre ich's kalifornisch kreischen.

Ich mache mich auf den Weg zurück zur Staumauer. Hineinblinzelnd in die Helle des Spätsommerhimmels, bekomme ich monströse Wolkengebilde über amorphen Steinmassen zu sehen. Und ab und zu ihre Bahn ziehende Vögel. Früher haben Zoologen geglaubt, es müsse ein «Leittier» geben, nach dem sich die andern richten. Heute weiss man, dass eine wohlformierte Gruppe von Vögeln plötzlich spontan die Richtung ändert, beispielsweise einen scharf gezogenen S-Bogen beschreibt und sich auch bei den unwahrscheinlichsten Kursänderungen nicht «aus der Form» bringen lässt. Der Schwarm bewegt sich synchron - er ist ein System. 

In der Baracke, dem «Headquarter», geht es zu wie in einem Taubenschlag. Jean Odermatt, Natel in der Hand, Funkgerät um den Hals, Pager am Handgelenk, ist ein Dutzend Leute. Ein Durchlauf, ein zweiter Durchlauf, erneuter Absturz der Ton- oder Lichtanlage. Fehler suchen, Mangel beheben. In der vierten Kammer das denkbar kargste Studio. Ein Stereomikrophon hängt von einer Leiter. Auf einem Bierharass steht ein Aufnahmegerät. Auf zwei Plasticstühlen liegen die Saxophone. Und ich stehe, mit dem Rücken zur Staumauerwand, hinter mir die ominösen 250 Millionen Liter Wasser. Und es spielt und spielt und spielt . . .

Gegen drei Uhr früh treten wir wieder durch die «Pforten der Wahrnehmung» nach draussen. Vollmond über dem Gotthard. Was für eine Orgel des Schweigens. Träge liegen sie da, die steingewordenen Riesenechsen, Jurassic Park vollzählig. Arm an Kraft, aber reich an Material, lege ich mich rücklings auf den Boden. Myriaden von Sternen schauenan: «Na, du kleiner Saxophonspieler, tutto sotto controllo?» Dann beginnt das Sternenmeer zu griessen. Wie im «magischen Auge» vermag ich plastische Dinge zu sehen. Ich starre, und alles beginnt sich wellenartig zu bewegen. Ich schaue durch glasklares Wasser auf blankpolierte Steine. Ein Satellit zieht schlingernd seine Bahn.

Werner Lüdi ist Musiker und lebt in Malans. Sein Auftritt in der Lucendro-Staumauer fand im Rahmen des Gotthardprojektes von Jean Odermatt statt.

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